Abiturrede 2000

Guten Abend – wir haben Abitur.

Dazu haben wir 13 Jahre unseres Lebens gebraucht. 13 Jahre, in denen wir mehr oder weniger fleißig, intensiv, motiviert und interessiert meistens (fast immer!!!) unsere gesamten geistigen Kräfte für unser schulisches Weiterkommen verwendet haben. 13 Jahre, in denen das Graf-Rasso-Gymnasium zu unserem zweiten Zuhause wurde, 13 Jahre, in denen sich die Anzahl unserer Mitstreiter kontinuierlich dezimierte. 13 Jahre, in denen sich die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern mal zum Schlechten mal zum Rechten entwickelte.
Doch was soll’s?
Der Lohn dafür ist der Schlüssel zu den Toren der Welt, das Visum für unsere glorreiche Zukunft, unsere akademische Green Card.
Heute Abend erhalten wir die Mappe aus Pappe, die die Welt bedeutet.
Doch was bedeutet sie wirklich?

Sind wir tatsächlich auf unsere Zukunft vorbereitet?
Wir können lateinische Gedichte skandieren, wissen mit komplexen Zahlen umzugehen, hermetische Gedichte zu entschlüsseln, haben den eindimensionalen Potentialtopf kennengelernt, beherrschen das gesamte Regelwerk von mindestens vier Sportarten und sind in der Lage, die Strukturformeln jedes am Calvin-Zyklus beteiligten Stoffes zu zeichnen.
Sie sehen, wir sind im Allgemeinen gebildet, aber haben wir auch Allgemeinbildung?
Für uns bedeutet dieser Begriff mehr als das im Gymnasium Erlernte.
Er umfasst zum Beispiel selbständiges Denken, eigene Ideen zu entwickeln, zu individuellen Ergebnissen zu kommen und diese zielstrebig umzusetzen. Auch Flexibilität wird im Berufsleben immer wichtiger. Von uns wird erwartet, Konfliktsituationen zu bewältigen und Teamfähigkeit zu zeigen.
In der Schulzeit lernt man früh, das eigene Wohl in den Vordergrund zu stellen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Beim Streben nach guten Zensuren bleibt die Solidarität schnell auf der Strecke. Das Ziel ist der Weg, und der Weg ist man selbst.
Zu oft werden Ungerechtigkeiten von den Schülern zwar bemerkt aber dennoch übergangen. Der Grund dafür ist häufig die Angst des Einzelnen, in der Gunst des Lehrers zu sinken oder auch nur die pure Ignoranz und Faulheit. Dies gilt ebenso für das Verhältnis der Schüler untereinander, welches oft alles andere als kollegial ist. Individualität wird nicht gern gesehen und kann nur mit einem großen Maß an Selbstbewusstsein ausgelebt werden.

Unserer Meinung nach könnte der Egoismus durch schulisch geförderte Gruppenarbeit und gemeinsame Projekte gemindert werden. Dass dafür die Schüler ebenso Bereitschaft zeigen müssen, steht außer Frage. Auch wird im Unterricht zu wenig diskutiert. Die Streitfähigkeit als notwendiges Mittel im sozialen Umgang wird durch den Frontalunterricht leider zu wenig berücksichtigt. Dabei ist gerade diese Eigenschaft im Berufsleben elementar.
Ebenso wichtig ist praktische Erfahrung, welche gerade am Gymnasium vernachlässigt wird. Die Ausübung eines mehrtägigen Praktikums beruht allzu oft auf Eigeninitiative und wird von der Schule zu wenig unterstützt. Statt dessen wird dies Schülern mit einem Hinweis auf den ohnehin überfüllten Lehrplan nur unter Vorbehalt genehmigt bzw. ganz verweigert.
Auch der Umgang mit neuen Medien kommt zu kurz. In der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist der Computer zu einem ständigen Begleiter geworden, mit dem auch wir in unserer Schulzeit stolze zwei Stunden konfrontiert wurden.
Glücklicherweise wurde dieses Problem bereits erkannt mit der Konsequenz, Informatik in absehbarer Zeit mehr in den Lehrplan zu integrieren. (Dieser Ansatz sollte auch auf die übrigen neuen Medien ausgeweitet werden.) Doch für jede Veränderung reicht die alleinige Initiative des Kultusministeriums nicht aus; um eine Reform effektiv zu realisieren, muß ebenso viel von Seiten der Lehrer und Schüler beigetragen werden.

Zu all den eben genannten Kritikpunkten noch ein paar Worte in eigener Sache: Wir, die 13. Klasse des Graf-Rasso-Gymnasiums sind immer mit vorbildlichem Beispiel vorangegangen. Tagtäglich zeigten wir mit jeder Faser unseres Körpers vollen Einsatz, haben die Lehrer stets zu innovativen Projekten angehalten, waren für alle Neuerungen offen und haben auch außerhalb des Unterrichts unser schulisches Engagement nie aufgegeben. Die Lehrer konnten sich vor intellektuellen Schülerbeiträgen kaum retten, wurden mit interessierten Fragen bombadiert und unser enthusiastischer Wissensdrang konnte selbst durch den Schulgong nicht eingedämmt werden. Irgendwelche Zweifel??? Die haben wir auch.
Wir sind uns bei aller Kritik am Schulsystem durchaus darüber im Klaren, dass die Motivation und das Engagement der Schüler zu wünschen übrig lassen. Die Schule wurde von uns zu oft nur als Belastung empfunden und nicht beispielsweise als Möglichkeit zur Interessensfindung gesehen.

Doch das haben wir alles hinter uns.
Blicken wir in die Zukunft.
Arbeitslosigkeit und Aufstiegschancen sind Schlagworte, mit denen wir fast täglich konfrontiert werden. Man hört regelmäßig von der Unsicherheit des Arbeitsplatzes, höheren Anforderungen im Bereich Flexibilität und Belastbarkeit, von Globalisierung und Rationalisierung.
Doch was sollen diese Begriffe für uns bedeuten? Wir haben unsere Schulzeit gerade beendet und stehen nun vor der schwierigen Entscheidung, welchen Weg wir einschlagen sollen. Die Tatsache, dass uns so gut wie alle Türen offenstehen, bedeutet gleichzeitig auch die Qual der Wahl. Es stellt sich die Frage, welche Faktoren für unsere Berufsfindung wirklich wichtig sind: Soll der Arbeitsmarkt über unsere Zukunft entscheiden, oder doch lieber unsere individuellen Interessen? Inwieweit sind Arbeitsmarkt und Interesse überhaupt miteinander vereinbar? Bedeutet beispielsweise Talent und Begeisterung für das Schulfach Deutsch auch Freude am Beruf des Germanisten?

Trotzdem lassen wir uns davon nicht beeindrucken. Wir nehmen unsere Zukunft selbst in die Hand, wir werden unseren Weg gehen.
Wir kriegen das hin.
Schließlich sind wir ja der Abi-Jahrgang 2000!!!!

Birgit Frank, Florian Fink


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