Die Türhüterparabel – Geschichten vom Scheitern

Die Sachseite der Kafka-Parabel “Vor dem Gesetz”

Für Kafka-Leser ist die moderne Parabel „Vor dem Gesetz“, die auch als Türhüter-Parabel bezeichnet wird, gewissermaßen der Bauplan vieler Texte des Autors. Auf viele Leser wirkt der Text zunächst trotz seiner sprachlichen Einfachheit unverständlich.

Ein Grund dafür ist, dass modernen Parabeln häufig die Sachseite fehlt, die einen konkreten Wirklichkeitsbezug des Lesers ermöglicht. Damit unterscheiden Sie sich von parabolischen Texten früherer Epochen, zum Beispiel von der Ringparabel in Lessings Drama „Nathan der Weise“.

Der hier stark geraffte Inhalt des ohnehin sehr kurzen Originaltexts kann nur einen unvollständigen Eindruck vermitteln, denn bei Kafkas Text kommt es auf beinahe jedes Wort an:

Ein Mann vom Land kommt zu einem Türhüter, der vor dem Eingang zum Gesetz steht und verlangt Eintritt. Der Türhüter verweigert den sofortigen Zugang zu dem Gesetz. Er erklärt, dass hinter dem Tor weitere Tore und Türhüter stünden, die mächtiger seien als er.

Eingeschüchtert verbringt der Mann sein Leben mit Warten auf den Zugang, doch auch Bestechungsversuche verschaffen ihm die Erlaubnis nicht. Erst am Ende seines Lebens fragt er den Türhüter, warum denn außer ihm selbst nie jemand anderes Einlass verlangt hat. Der Türhüter brüllt dem Mann ins Ohr, dass der Eingang nur für ihn bestimmt gewesen sei und dass dieser nun geschlossen werde.

Die Schüler der Klasse 11b (Schuljahr 2004/05) haben versucht, Kafkas Text mit selbst vorgestellten Sachseiten in eigenen Geschichten zu ergänzen. Einige der Ergebnisse sind hier nachzulesen.

Geschichten vom Scheitern

Anonym: Die einzig wahre Liebe

Jonas, ein ganz normaler Mann, hatte in seiner Jugend nicht viele Freundinnen. Die Beziehungen, die er damals hatte, hielten meistens auch nicht länger als zwei Wochen. Dies lag aber nicht an seinem Aussehen oder an seinem Verhalten, sondern daran, dass er an das äußere Aussehen der Frau zu hohe Ansprüche stellte. Während die Jahre vergingen, wurde es für den noch jungen Mann immer schwieriger eine Frau für das Leben zu finden, da sich seine Kriterien immer erweiterten. So blieb Jonas für lange Zeit allein.

Kurze Zeit nach seinem 56. Geburtstag erhielt er eine Einladung zur Hochzeit seiner neuen Nachbarin Ingrid. Jonas war sehr verwundert, da er damals in seiner Schulzeit mit Ingrid in einer Klasse gewesen war und er sie meistens nur gehänselt oder ausgelacht hatte. Im Allgemeinen hatte er sie jedoch ignoriert. Auch als sie später gemeinsam studierten, versuchte er so wenig wie möglich mit ihr zu reden. Nachdem Ingrid in Jonas’ Nachbarschaft gezogen war, baute er den Kontakt wieder auf und bekannte sich zu seinen früheren Fehlern.

Als er einen Tag vor der Hochzeit Ingrid in dem weißen Kleid sah und bemerkte, wie schön sie darin war, verließ er ganz schnell wieder den Raum und setzte sich zuhause in seinen Sessel. Er dachte nun an früher, wie er Ingrid wegen ihres Aussehens immer aufgezogen hatte. Dann dachte er wieder an die Gegenwart und wie gut er sich plötzlich mit ihr verstand. Nun merkte er, dass Ingrid die perfekte Frau für ihn wäre, doch sie heiratete einen anderen Mann.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es bei einer Frau nicht nur auf das Aussehen ankommt, sondern vielmehr auf die inneren Werte, und dass die Liebe oftmals näher ist, als man denkt.

Kathi Schmid: Die Türkei vor verschlossenen Türen

In Europa haben sich einige Staaten zu einem Bündnis zusammengeschlossen, genannt die EU. Eine grundlegende Aufgabe dieses Bündnisses ist beispielsweise die Vereinfachung des innereuropäischen Handels, welche man mit einheitlicher Währung, leichterem Auslandsüberweisungsverkehr etc. bewerkstelligen möchte. Nun ist es verständlich, dass auch Länder, die noch nicht Mitglieder dieses Bündnisses sind, gerne diesem beitreten möchten.

Eines dieser Länder ist die Türkei. Sie konnte und kann allerdings die Beitrittsbedingungen nicht erfüllen und wird deshalb von Zeit zu Zeit von europäischen Gutachtern der Europäischen Union beurteilt. Ein großes Hindernis für den EU-Beitritt der Türkei ist die mangelnde Durchsetzung der Menschenrechte im Land. So sind dort die Todestrafe, Folter bei Verhören und ähnliches noch rechtskräftig bzw. möglich. Dies ist nur einer der Gründe, weshalb man die Türkei immer wieder von Gutachten zu Gutachten vertrösten muss. Ständig tauchen neue Stolpersteine auf der staubigen Straße des vorwiegend muslimisch geprägten Staates zur EU auf, z.B. auch die Gleichberechtigung der in der Türkei lebenden Frauen.

Da die Türkei nicht immer nur neidisch auf die europäische Wirtschaft blicken möchte, versucht man also jetzt, den EU-Beitritt zu erwirken. Die Regierung in Ankara versucht daher eine Brücke zur EU zu bauen. So sprachen Bundeskanzler Schröder und der türkische Regierungschef Erdogan bei ihrem letzten Treffen darüber, tiefere Handelsbeziehungen zwischen der Türkei und Deutschland zu schaffen. Geht die Türkei so auf Stimmenfang für ihren Beitritt?

(…) Eine Möglichkeit des Beitritts der Türkei wäre im Rahmen der Ost-Erweiterung 2004 gewesen, welche aber wegen der Nichterfüllung der Beitrittsbedingungen nicht wahrgenommen werden konnte, obwohl man sich jahrelang darum bemüht hatte. Für einen kurzen Moment zweifelte Ankara sogar am Vorhaben. Man muss sich dort die Frage gestellt haben, warum keiner außer den Türken derart lautstark den Eingang zur EU aufzusuchen scheint bzw. warum das Begehren anderer Staaten zum EU-Beitritt nicht zu vernehmen ist.

Die Antwort ist wohl, dass der Türkei nur ein einziger, ganz individueller Eingang in die EU offensteht, ein Eingang, den nur sie erreichen und durchschreiten kann, wenn sie alle Steine, das heißt alle Mängel, beiseite geräumt hat, so dass man die Straße zu diesem Eingang ungehindert passieren kann.

Dieser Eingang wird allerdings geschlossen werden, sobald die Türkei der Bemühungen müde ist, einen EU-Beitritt zu erwirken, oder falls die Gutachter einmal feststellen sollten, dass der Beitritt der Türkei aufgrund bestimmter Kriterien niemals mit den Grundgedanken der EU vereinbar sein wird.

Mario Regler: Reklamation

Ein Mann hat sich in einem Elektro-Geschäft einen DVD-Player gekauft. Nachdem er ihn ausprobiert und festgestellt hat, dass dieser einen Defekt hat, fährt er zurück in das Geschäft.

Er geht in den Service-Bereich des Ladens und stellt sich an den Schalter mit dem Schild „Service“ am Ende einer sehr langen Schlange an. Die Schlange scheint in der folgenden Zeitspanne kaum kürzer zu werden und bis er schließlich an der Reihe ist, ist es etwa drei Minuten vor Ladenschluss. Glücklich stellt der Mann das Gerät auf die Theke und schildert dem Angestellten das Problem. Nachdem der Angestellte ihm zugehört hat, entgegnet er dem Mann, er müsse zum Reklamationsschalter „eins weiter“.

Der Mann ärgert sich furchtbar, als er grummelnd den Schalter wechselt und feststellt, dass dieser soeben geschlossen hat. Er hört, wie sich die zwei Angestellten unterhalten und der für den Reklamationsschalter zuständige sagt, heute habe er keinen einzigen Kunden bedient.

Joseph Hainzinger: Kommunikationsproblem

Lukas, der kleine Junge der Meyers, sah in dem Kaufhaus, in dem er mit seiner Mutter war, um Geburtstagsgeschenke zu kaufen, die neue Playmobil-Ritterburg, aber er traute sich nicht zu fragen, ob er sie zum Geburtstag haben könne, weil sie recht teuer war.

Als sie auf dem Rückweg waren, mit dem Geburtstagsgeschenk, einem Lego Technic Racing Car, auf das er sich nicht so recht freute, da er lieber die Playmobilburg gewollt hätte, fragte er seine Mutter, wie sie die Burg gefunden hätte.

Darauf antwortete sie, dass sie auch schon daran gedacht hätte, sie zu kaufen, aber sie hätte gemeint, er wolle lieber das Lego-Auto. Er hätte nur etwas sagen sollen.

Alexander Westermayer: Rückspiel

Ein Schüler am Gymnasium bekam einmal eine sehr komplizierte Hausaufgabe auf, denn er sollte die Sachseite zu dem Text „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka schreiben. Leider hatte er damit ein Problem: Um die Sachseite zu schreiben, musste er erst einmal den Text verstehen. Also überlegte er und es dauerte auch nicht lang, bis er glaubte, den Sinn verstanden zu haben. Nun brauchte er noch eine gute Idee, um was genau es in seinem Aufsatz gehen sollte.

Er überlegte den ganzen Nachmittag, doch fiel ihm nichts ein. Einen Ansatz formulierte er schon, doch diesen verwarf er bald wieder, da er merkte, dass dieser nicht sonderlich gut war. Am nächsten Tag in der Schule wurde der Text wieder besprochen und er unterhielt sich auch mit Freunden in der Pause, wie man am besten so eine Sachseite schreibt. Doch auch das half ihm nicht wirklich weiter.

Am Nachmittag dieses Tages hockte er sich wieder an seinen Schreibtisch und dachte nach. Doch ihm fiel wieder nichts ein und so beschloss er, ohne Hausaufgaben im Unterricht zu erscheinen, und hoffte, dass alles irgendwie gut gehen würde.

Leider war dem nicht so, und er wurde aufgerufen. Da er keine Hausaufgaben hatte, bekam er einen Strich und ihm wurde gesagt, er hätte doch einfach darüber schreiben können, dass ihm nichts eingefallen ist.

Elisabeth Schäfer: Vor dem Gesetz – die Juristen behalten das Recht!

Ein Bauer geht zu seinem Anwalt, um ein Gerichtsverfahren anzustrengen, denn der Grenzstein zu seinem Nachbarn liegt zu weit in seinem eigenen Feld und er möchte dieses Problem beheben, doch sein Nachbar weigert sich, die Versetzung des Steins anzuerkennen.

Der Jurist hört sich die Sachlage an und fragt den Bauern, ob er seinen Nachbarn schriftlich eine Frist bis zur Versetzung mitgeteilt habe. Dies bejaht der Bauer und meint, dass sein Nachbar nicht darauf reagiert habe, ob man ihn nicht mit Hilfe eines Gerichtsbeschlusses zwingen könne.

Der Anwalt sagt: „Als Einzelner können Sie es schon versuchen, aber Sie werden den Fall jetzt nicht so gewinnen. Aber wenn ich Sie bei Gericht vertreten würde, mich vorher mit der Sachlage genau befasst habe und Informationsmaterial zusammengetragen habe, dann haben Sie eine reelle Chance auf einen positiven Gerichtsentscheid.“ Damit ist der Bauer einverstanden und geht nach Hause.

Nach ein paar Monaten, in denen er nichts von seinem Anwalt gehört hatte, ging er abermals hin, doch der Jurist verwies in darauf, dass er noch nicht so weit sei und noch mehr Zeit bräuchte. Der Bauer sah das ein, gab dem Anwalt jedoch einen Vorschuss in der Hoffnung, dass es nun schneller gehen würde. So ging das viele Jahre, in denen der Bauer regelmäßig bei dem Juristen vorsprach.

Nach vielen Jahren wurde der Bauer schwer krank und als er einsah, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, bat er den Anwalt um ein letztes Gespräch. Er fragte ihn, warum es in seinem Fall nie vorwärts gegangen und warum er nie vor Gericht verhandelt worden sei. Der Anwalt erwiderte, dass er diesen Fall nie ernsthaft bearbeitet hätte, denn er hätte Wichtigeres zu tun gehabt, weswegen er diesen sinnlosen Prozess, den der Bauer sowieso verloren hätte, immer wieder verschoben hätte.

Ein paar Tage danach starb der alte Bauer, jedoch war er bis zum Schluss sicher, dass er im Recht war. Nur war es zu umständlich gewesen, dieses Recht zu bekommen. Deswegen hatte sich ja auch nie jemand damit beschäftigt.

Lina Brach: Vergebliche Suche

Ein fast erwachsener Junge, der adoptiert worden war, machte sich auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern. Er fragt seine Adoptiveltern einige Male nach ihnen, diese können beziehungsweise wollen ihm nicht helfen: Es kommt zu einem heftigen Streit und der Junge bricht deshalb jeglichen Kontakt zu ihnen ab.

Er nimmt mit dem Jugendamt und weiteren Behörden Verbindung auf und bekommt nach Tränen, vielen Enttäuschungen und Anstrengungen endlich eine Telefonnummer.

Nach einiger Zeit wagt er endlich dort anzurufen, er legt sich Worte zurecht, probt sie, doch als er anruft und sich eine unsympathische Stimme meldet, legt er auf.

Die Zeit verstreicht, er überlegt hin und her. Er zögert, zweifelt und findet schließlich die Adresse heraus. Er begibt sich dort hin, streicht um das Haus, will klingeln, tut dies aber nicht und fährt wieder nach Hause. Dies wiederholt sich einige Male.

Endlich klingelt er doch. Eine schwarzgekleidete Frau mit verweinten Augen öffnet und erklärt ihm, dass die bisherigen Bewohner der Wohnung, gute Freunde, bei einem Autounfalll am Vortag gestorben seien. Angehörige gäbe es keine, denn das Paar wäre alleinstehend gewesen, Kinder hätte es also auch nicht gehabt. Der Junge geht todtraurig davon, seine lange Suche war vollkommen umsonst. Er ist ganz allein.

Tage, Wochen und Monate verbringt er in Depression. Zu seinen Adoptiveltern hatte er immer noch nicht wieder Kontakt aufgenommen. So vergehen die Jahre, der Junge gründet eine eigene Familie und ab und zu denkt er noch an seine Eltern und die Suche nach ihnen.

Als ihn die Nachricht vom Tod seiner Adoptiveltern erreicht, sind seine eigenen Kinder schon lang aus dem Haus. Ihn trifft die Trauer plötzlich und unerwartet, eine viel heftigere Trauer, als beim Tod der leiblichen Eltern.

Und erst da erkennt er, dass er nie allein gewesen war, dass er immer Eltern gehabt hatte, dass er nur zu verbohrt gewesen war, um dies zu erkennen. Und nun war es zu spät.

Michael Weidinger: Bajuwarische Aufmerksamkeitsdefizite

Ein aus Asien kommender Mann ist auf dem Oktoberfest. Er hat für sich und seine Familie eine Box in einem hier nicht erwähnenswerten Zelt reserviert. Zum ersten Mal auf der Wiesn folgt der Mann den Menschenmassen und stellt sich am Haupteingang an. Nachdem der Mann endlich ganz vorne in der endlos scheinenden Menschenschlange steht, holt er die Reservierungsbestätigung heraus. Der Türsteher, ein „Ur-Bayer“ sagt mit hektischer und lauter Stimme zu dem Mann, dass der Reservierungseingang an der Seite sei, und er ihn bei der Menschenmasse hier im Moment nicht einlassen könne. Mit einem Fingerzeig in Richtung des Reservierungseinganges schiebt er ihn beiseite.

Nachdem der Asiat aber nur gebrochen Deutsch spricht und es ihm auch schwer fällt, die deutsche Sprache zu verstehen, weiß er nichts mit dem Worten des Security-Mannes anzufangen, zumal dieser auch noch mit bayerischem Akzent gesprochen hat. Somit dreht sich der Mann, in die Richtung um, in die der Türsteher gezeigt hat. Dort erblickt er einen durchtrainiert und unfreundlich wirkenden Türsteher, der einen Wiesnbesucher nach dem anderen abweist und auf die große Schlange zeigt, aus welcher der Mann aus dem Osten immer weiter herausgedrängt worden ist. Aus Angst dort auch falsch verstanden zu werden, zögert er. Schließlich zieht sich der Mann ganz zurück und setzt sich gegenüber dem Reservierungseingang auf den Boden und hofft, dass der Andrang der Menschenmassen nachlässt und er es noch einmal bei dem ersten Eingang versuchen kann, weil ihm dort die Sicherheitsbeauftragten freundlicher vorgekommen sind.

Doch die Menschenmassen lassen nicht nach. Im Gegenteil, es werden je näher der Abend rückt, noch mehr Leute, die hineinwollen. Als der Mann jedoch einmal auf die Toilette geht, bemerkt er auf dem Rückweg ein Fenster, durch das er deutlich einen freien Tisch sieht, auf dem die gleiche Nummer steht wie auf seinem Zettel. Voller Hoffnung stellt der Mann sich wieder am Haupteingang in die Menschenmenge und wartet dort Stunde um Stunde, ohne zu merken, dass dort schon längst keiner mehr hineingelassen wird, da das Zelt schon überfüllt ist.

Als er endlich wieder an der Türe ankommt, räumen die Putzkräfte im Zelt schon auf, da die Band aufgehört hat zu spielen und die Bedienungen kein Bier mehr ausschenken. Auf die Bitte hin, Englisch mit ihm zu reden, wird ihm erklärt, dass der Tisch, den er gesehen hat, schon seiner gewesen sei, und dass er den Reservierungseingang hätte benutzen müssen, um hineinzugelangen. Völlig enttäuscht tritt der Mann die Heimreise an, ohne das Zelt auch nur einmal betreten zu haben.

Meine neugeschriebene Geschichte
nach „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka
von S.M. (5c)

Der zwölfjährige Franz ist aus Kranklershausen, einem kleinen Dörfchen in Niederbayern nach München gezogen. Auf der Hinfahrt hat er mehrmals die Broschüre „Schönes München“ durchgeblättert. Eigentlich ist für ihn das meiste langweilig gewesen, denn Kulturelles hat ihn noch nie interessiert. Doch ein Name ist ihm immer wieder ins Auge gestochen: Blue Line.

Was war wohl das Blue Line?  Es war kein Bild dabei. Und darunter stand nur etwas wie „Hier können Sie eine Menge erleben!“ Natürlich war Franz neugierig geworden und stieg deshalb gleich nachdem die ersten Kartons abgeladen waren in die U-Bahn nach Neuperlach.

Dort steht er nun und sucht nach der Schulstraße. Da die Schulstraße sehr groß ist, findet er sie schnell. Vor ihm steht ein großer, grauer Block. An die Wand sind zyanblaue Buchstaben genagelt, die zusammengesetzt BLUE LINE ergeben. Vor der großen Tür, von der man vor lauter daraufgeklebten Plakaten und Flugblättern nur noch die Klinke sehen kann, wacht ein Türsteher. Er trägt einen schwarzen Jogginganzug, graue Turnschuhe und eine rote Kappe. Um den Hals hängt ihm eine große Goldkette und zwischen seinen Fingern klemmt eine Zigarette. Er sieht wie jeder x-beliebige Jugendliche aus, nur sein Blue-Line-Anstecker verrät, dass er wirklich dort angestellt ist.

Franz packt seinen neuen braunen Geldbeutel aus und bittet den Türsteher höflich: „Bitte, kann ich in dieses komische Blue Line da reingehen? Ich gebe dir fünf Euro Eintrittsgeld!“

„Nö!“, antwortet der Türstehen. Er hat eine tiefe, raue Stimme. In dem sonst recht geizigen Franz breitet sich Neugier aus. Ohne zu zögern, zieht er noch einen Fünf-Euro-Schein heraus.

„Zehn Euro?“ Der Türsteher schüttelt heftig den Kopf, so dass seine Kappe verrutscht.

„Nee, Alter! Du kannst da nicht rein, ey!“

Franz stampft auf. „Wieso nicht?“, will er wissen.

Der Türsteher ruft: „Weil, Mann! Ich lass dich nicht ins Blue Line! Kauf dir `ne DVD von den Teletubbiesund komm später wieder!“

Verärgert packt Franz die Geldscheine wieder ein, dreht sich um und kauft sich an der Eisdiele gegenüber einen Schoko-Vanille-Traum mit Cocktailkirschen und viel Sahne. Emsig rührt er darin herum, bis ein marmorierter Brei entsteht und versucht den Türsteher und das Blue Line Gebäude, was immer darin sein mag, aus seinem Kopf zu verdrängen. Er stellt sich seinen Lehrer in einem rosa Ballkleid vor, beginnt aber nicht zu lachen. Ständig hört er das Echo von dem, was der Türsteher zu ihm gesagt hat. Es geht einfach nicht! Franz steht auf und lässt den Eisbrei stehen. Ein paar ältere Mädchen setzen sich an den Tisch und rufen: Das Auge isst nicht immer mit! Los Girls! machen wir uns über die Pampe her!“

Langsam kommt Franz wieder an dem grauen Block an. „Jetzt ist später!“, denkt er sich. Der Türsteher ist gerade dabei seine Zigarette zu zertreten. „Hi, Alter! War’n die Teletubbies lustig?“, scherzt er.

„Ha-ha-ha! Wie witzig!”, stöhnt Franz. „Bevor du losalberst, sag mir erst einmal deinen Namen!“

„Dieter.“

„Also, Dieter…“, beginnt Franz, doch Dieter unterbricht ihn.

„Ey, Kumpel, check’s mal! Nur weil du eine Viertelstunde Teletubbies geguckt hast, heißt das nicht, dass ich dich jetzt reinlass’!“

„Warum, warum, warum darf ich nicht rein?“, brüllt Franz. „ich gebe dir neunzehn Euro, mehr habe ich nicht!“ Richtig rot läuft er an.

Dieter grinst.„Du kannst ja voll krass einfach durch mich durchrennen! Aber wenn du’s machst, kannst du nie wieder Döner kaufen, weil dann bist du platt. Und meine Kumpels am Hintereingang sind so konkrete Muskelprotze, bei denen bist du gleich tot! Ich bin ja nur die Stufe Eins, Mann!“

Solche Schwierigkeiten hat Franz nicht erwartet. Überall kribbelt es auf seiner Haut und in ihm kocht eine Brühe aus Wut, Neugier und dem großen Willen, etwas zu erreichen.

Dann will er am liebsten doch aufgeben und warten, bis er auch so alt wie der Türsteher ist und dann ins Blue Line gehen, aber er bleibt stehen. „Ich bleibe hier!“

Dieter spuckt in einen Gulli und ächzt genervt: „Boah, du bist hartnäckig, echt ätzend! Aber du kannst ja da stehen bleiben!“

Lange steht Franz Dieter gegenüber. Auf seinem Gesicht sind Pickel und seine Zähen sind vom Rauchen ganz gelb. Seiner Augenbrauen sind an der Nasenwurzel zusammengewachsen und seine zerstrubbelten Haare wirken wie das Fell eines Yeti. Wie ein richtiges Monster kommt er ihm vor. Franz könnte sich gut vorstellen, dass Dieter irgendwannn einmal gröhlend durch die Stadt rennt. Es wird kalt und dunkel. Dieter ist inzwischen in eine speckige Lederjacke geschlüpft. Seine Stimme ist vor Müdigkeit langsamer und brummiger geworden.

„Willst du jetzt nicht mal heimfahren?“, fragt er. Kleine Wölkchen steigen in die Luft, wenn er spricht.

„Okay!“ Franz schleicht zur Telefonzelle, wirft ein paar Münzen in den Schlitz und ruft zuhause an. Seine Eltern sind sehr besorgt gewesen.

„Sorry, ich wollte unbedingt mehr von München sehen!“, spricht er in den Hörer.

„Och, Franz! Wir wollten doch nächste Woche mit dir herumfahren  und dir München zeigen, aber du machst immer alles auf eigene Faust und fährst in irgend so ein komisches Viertel!“, wirft ihm die Mutter vor. „Also, dann fahr jetzt schnell heim! Wir essen ausnahmsweise auf dem Boden, weil der Tisch noch nicht aufgebaut ist. Suppe gibt’s“

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Nach dem Frühstück fährt Franz mit seinen Eltern zum Schwimmen und danach… Ja, richtig! Es geht wieder nach Neuperlach. Später kommt er auch nach der Schule immer wieder zum Blue Line. Zwischen Dieter und ihm ist eine kleine Freundschaft entstanden, aber nur eine winzig kleine. Dieter stellt Franz Fragen über Kranklershausen und er fragt den Dieter nach München. Immer wieder versucht Franz Dieter so abzulenken, dass er nicht merkt, wie sich Franz ins Blue Line pirscht. Doch es gelingt Franz nie. Er hat versucht ihn zu bestechen, mit einer tollen grünen Baseballmütze, einer silbernen Rapperkette, einer roten Jeans und einem großen Apfeleis. Doch Dieter hat sich nicht weichkriegen lassen. Und die Neugier in Franz wächst und wächst und wächst ihm bald zu den Ohren heraus. Was, verflucht, ist Blue Line?

So geht das weiter, bis Franz vierzehn ist. Er lernt die Sprache von Erkan und Stefan und schmiert sich jeden Tag eine halbe Tube Gel ins Haar. Hauptsache er ist „angesagt“- und wehe seine Eltern verhalten sich „uncool“ Den Dieter endlich doch zu bestechen, ist schließlich seine letzte Sorge!

Doch irgendwann, Franz ist mittlerweile zwanzig, möchte er doch noch einma wissen, was sich im Inneren dieses grauen Blocks verbirgt. Mit einem Kinogutschein für Dieter fährt er nach Neuperlach. Das Blue Line hat sich nicht verändert. Bloß Dieter sieht ein bisschen älter aus. Er ist etwas edler gekleidet und hat keine Pickel mehr im Gesicht.

„Hall, Franz, bist du’s?“fragt er. Er kann es kaum glauben. Franz nickt. „Was willst du denn jetzt schon wieder wissen, Alter?“ Du kannst nie Ruhe geben, ey!“

„Ich will wissen, warum dich nie jemand außer mir gefragt hat, ob er ins Blue Line darf! Ich denke es ist so erstrebenswert dort hineinzukommen!“

„Weißt du, das ist so“, erklärt Dieter und bemüht sich, ganz normales Hochdeutsch zu sprechen, „niemand durfte rein, denn das Blue Line war immer für dich offen – jetzt sperre ich zu!“


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